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    Foto: Jörg Staude

„Ich war der lebende Algorithmus“ – Soester Gesichter

Erstellt am: 27.04.2023

Digitalisierung hat viele Gesichter – Soest auch. In unserer Reihe „Soester Gesichter“ sprechen wir mit Personen, die in Soest leben oder arbeiten, und erfahren, was der digitale Wandel mit ihrem (Berufs-)Leben macht.

Jörg Staude arbeitet seit 33 Jahren als Musikjournalist. Damals angefangen als festangestellter Redakteur, arbeitet er mittlerweile seit 2010 freiberuflich. Seitdem ist er auch als Nachhilfelehrer für Englisch und Deutsch aktiv. Er stammt ursprünglich aus Herzfeld, wohnt seit 1999 nach Stationen in München, Hamburg und Köln wieder in Soest; hier hat er auch am Aldegrever-Gymnasium sein Abitur gemacht. 

Herr Staude, wie sind Sie eigentlich zum Journalismus gekommen und wie ist es, als Freelancer in Soest zu arbeiten?

Ich habe bei einem kleinen Musikmagazin angefangen, das kostenlos in Kneipen und Geschäften der Soester Umgebung auslag. Später bin ich dann als Redakteur beim damals größten europäischen Hardrock- und Heavy Metal-Magazin namens ‚Metal Hammer‘ mit Hauptsitz in Dortmund eingestiegen. Wir hatten 13 verschiedene Ausgaben in europäischen Ländern, es gab sogar mal zwei Ausgaben in Russland. Zu Hochzeiten hatten wir insgesamt knapp eine halbe Million Leser.

Die meisten der Bands in diesem Genre sind entweder amerikanisch, britisch oder skandinavisch. Daher habe ich die meisten Interviews auf Englisch geführt. Ich bin deswegen sehr oft auf Reisen gewesen. In den 90ern war ich mindestens einmal im Monat in den USA, Großbritannien oder Skandinavien. Ich war für drei bis fünf Tage unterwegs, habe die Bands in Hotels, Studios oder auch zuhause getroffen, dort Interviews geführt und bin wieder zurückgeflogen. Damals war Pressearbeit eine umfangreichere Geschichte. Das hat sich im Laufe der Jahrzehnte etwas geändert. Mein letztes Interview in den USA war Aerosmith vor über zehn Jahren.

Welche Rolle hat die Digitalisierung dabei gespielt? Hat sich Ihre Arbeit dadurch sehr verändert?

Ja. Als ich mit diesem Job angefangen habe, gab es erst gar keinen und dann keinen so einfachen Zugang zum Internet wie heute. Da wurden Interviews entweder Face-to-Face  oder per Telefon geführt. Durch die Corona-Pandemie werden heute bevorzugt Videocalls genutzt. Meine ersten Texte habe ich noch handschriftlich vorgeschrieben, dann mit der Schreibmaschine  abgetippt und per Post an die Redaktion geschickt. Dort wurden die Texte noch einmal in den Computer eingegeben und gesetzt. Der ganze Prozess der Magazingestaltung hat sich komplett verändert. Es gibt z. B. keine Druckfahnen mehr, das heißt, früher gab es Probeabzüge, wenn ein Layouter eine Story mit Foto und Text zusammengebaut hat, die dann wiederum noch einmal Korrektur gelesen wurde. Irgendwann kam dann die Diskette, darauf wurden die Texte gezogen und per Post verschickt. Mit der E-Mail gab es erst mal nur einen weiteren Kommunikationsweg, Texte konnte man anfangs noch nicht anhängen. Das war erst später möglich, hat dann alles extrem erleichtert und den Prozess beschleunigt. Der Job als Journalist war früher ortsabhängig: Man hatte ein Büro, ein Telefon und ein Faxgerät, damit musste man arbeiten. Das hat sich durch das Internet gewandelt, jetzt kann ich diesen Job im Prinzip in der ganzen Welt ausüben. Ich habe schon Texte im Flieger, am Strand oder im Hotel geschrieben.

Wie sieht die Zukunft des Journalismus aus? Wird eine künstliche Intelligenz den Journalisten bald ersetzen?

Der Algorithmus hat im Prinzip den Beruf des Musikjournalisten ersetzt. Früher war ich der lebende Algorithmus. Wenn mir jemand sagte, welche Rockmusik und welche Bands er mochte, dann konnte ich sagen, was ihn interessieren würde. Das kann ich natürlich heute auch noch, bloß finden die meisten Menschen über Google, Spotify oder YouTube neue Lieder und Interpreten. Auch als Nachhilfelehrer merke ich den Wandel – die Schüler versuchen mir Texte von ChatGPT vorzulegen. Aber ich kenne die Schüler. Wenn ein Schüler ankommt, der von einem Thema keine Ahnung hat und der Text auf einmal perfekt ist, weiß ich Bescheid.

Ob ein Computer irgendwann eigenständig Interviews führen wird, weiß ich nicht. Auszuschließen ist es allerdings nicht, denn diese Technik wird schon teilweise in Bewerbungsgesprächen eingesetzt. Doch der Computer kann Körpersprache nicht erkennen oder keinen Augenkontakt halten. Künstlern oder Musikern, die bestimmte Ereignisse in ihrem Leben verarbeiten, merkt man aber genau an, wenn sie über etwas reden möchten. Wenn man Augenkontakt zu jemandem hat, dann bekommt man persönlichen Zugang. Interviews sind manchmal wie Therapiesitzungen. Ich hatte schon einige Gespräche, in denen die Musiker anfingen zu weinen. Ein Computer kann diese Reaktion nicht hervorrufen. Mittlerweile sehe ich das Ganze leider nur noch als Hobby an. Es gab und gibt nur sehr wenige Menschen, die das hauptberuflich machen können und auch davon leben können. Die Verkaufszahlen der Magazine in diesem Genre sind seit Jahren konstant, aber es ist nur noch ein Fünftel von dem, was früher verkauft wurde.

Wie up-to-date ist Soest Ihrer Meinung nach? Lernt Soest von der Welt oder die Welt von Soest?

Jeder, der will, kann sich über alles informieren, das Internet macht es möglich. Man hat alle Möglichkeiten, man muss sie nur nutzen. Man muss sich nicht allein über den gedruckten ‚Soester Anzeiger‘ über Politik informieren. Mit dem Internet sind alle Möglichkeiten gegeben. Nachrichten verbreiten sich heutzutage auch viel schneller. Früher musste ich jemanden anrufen, heute schicke ich schnell eine Sprachnachricht oder es wird etwas in einer Gruppe gepostet. In der heutigen Generation passiert fast alles online, die Leute gehen weniger raus und die Kneipen werden weniger.

Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie digital ist Soest heutzutage?

Meiner Meinung nach hat das ganze Land die Digitalisierung verschlafen, da ist Soest leider keine Ausnahme. Deshalb sage ich vier. Da muss noch einiges passieren. Ich denke, das wird noch einige Zeit dauern.

Wenn Sie drei Wünsche frei hätten, was würden Sie sich für das Soest der Zukunft wünschen?

Bezogen auf meinen Job wünsche ich mir eine bessere Qualität meiner Videokonferenzen, sprich eine bessere Internetverbindung. Ich bin gespannt, ob ich Glasfaserkabel noch erleben werde. Dann wünsche ich mir einen besseren Straßenbelag, das Kopfsteinpflaster muss nicht unbedingt sein. Außerdem würde ich mir wünschen, dass Bauentscheidungen in Soest noch nachhaltiger durchdacht werden.

Das Interview hat Vanessa Alke, Praktikantin im stadtLABOR, am 14. März 2023 geführt.