Skip to main content
  • Porträtfoto von Klaus Spiegel, stehend im stadtLABOR Soest

    Foto: stadtLABOR Soest

„Die Plattform ist das Herzstück“ – Soester Gesichter

Erstellt am: 30.03.2023

Digitalisierung hat viele Gesichter – Soest auch. In unserer Reihe „Soester Gesichter“ sprechen wir mit Personen, die in Soest leben oder arbeiten und erfahren, was aktuelle Themen und der digitale Wandel mit ihrem (Berufs-)Leben machen. 

Seit 2021 ist Klaus Spiegel im Foodsharing-Bezirk Soest aktiv. Der gebürtige Soester ist 67 Jahre alt und vor ca. 15 Jahren auf das Thema Lebensmittelverschwendung aufmerksam geworden. Seine Tochter, die damals in einer Bäckerei arbeitete, machte ihn auf die großen Berge an Teigwaren, die weggeschmissen wurden, aufmerksam. Lebensmittel retten ist seither sein persönlicher Beitrag, um Ressourcen zu sparen und Verschwendung von Essen zu vermeiden.

Ist Lebensmittelrettung in Deutschland überhaupt notwendig?

Die Lebensmittelverschwendung ist schon enorm. In Deutschland fallen Lebensmittelabfälle entlang der gesamten Lebensmittelversorgungskette an, also von der Landwirtin bzw. dem Landwirt bis zum Teller, und wurden vom Statistischen Bundesamt für 2020 in einer Größenordnung von 10,9 Millionen Tonnen benannt. Nach einer Studie der Welternährungsorganisation FAO aus dem Jahr 2013 wandern weltweit jährlich die gigantische Menge von ca. 1,3 Milliarden Tonnen auf den Müll.

Seit wann gibt es Foodsaver, also Lebensmittelretter, in Soest und was heißt denn genau Foodsharing?

Foodsharing hier in Soest, ist eine Gruppe von mittlerweile 80 Personen, die sich für die Reduzierung der Lebensmittelverschwendung seit 2018 engagieren. Wir sind alle ehrenamtlich tätig und Teil der großen foodsharing-Initiative. Als ich im August 2021 dazukam, waren wir knapp 40 Leute. Die Gruppe hat in anderthalb Jahren deutlich zugenommen, weil mehr über Lebensmittelverschwendung gesprochen wird und Lebensmittelpreise steigen.

Und wie läuft das ab, Lebensmittel aus Supermärkten retten?

In Soest haben wir momentan 26 Kooperationen mit Supermärkten und mit anderen Betrieben, die Lebensmittel verkaufen. Dort holen wir täglich, manchmal wöchentlich oder spontan nach Bedarf Lebensmittel ab. Wir bilden Teams, damit der Betrieb auch die Lebensmittelretter kennt, die bei ihm Lebensmittel abholen. Kommen wir bei den Betrieben an, dann stehen die Lebensmittel im besten Falle schon auf der Anlieferungsrampe. Dann fangen wir an zu sortieren. Wir nehmen nur das mit, was noch genießbar ist. Kühlware holen wir direkt aus dem Kühlraum oder lassen sie uns aus dem Kühlraum geben. Wichtig ist, dass jeder von uns ein Hygienezertifikat besitzt, das regelmäßig aktualisiert wird. Bei uns gibt es keine Vorschrift, wie die Lebensmittel verteilt werden. Der einzelne Retter entscheidet, wo sie letztendlich landen – ob bei Freunden, Nachbarn, Bekannten oder privaten sowie offiziellen Foodsharing-Verteilstationen (Fairteiler).

Wichtig ist, wir sehen uns als Ergänzung zur Soester Tafel und nicht als Konkurrenz. Wir stehen im engen Austausch mit der Tafel und unser Motto lautet: Tafel first! Die Tafel holt bei vielen Supermärkten vorher ab und wir sind dann die letzte Instanz vor der Mülltonne.

Wie vernetzt ihr euch eigentlich, welche Rolle spielt Digitalisierung für euch?

Der Dachverband stellt die Plattform https://foodsharing.de/ zur Verfügung, eine unserer wichtigsten Austauschplattformen. Ohne Digitalisierung, ohne Plattform geht es im Prinzip nicht. Die Plattform ist das Herzstück unserer Kommunikation. Denn darüber läuft die ganze Abstimmung, was die Abholungen angeht, aber auch die Kommunikation mit den anderen Foodsharing-Bezirken. Es gibt Foren für Botschafter und für die Kooperationen mit großen Betrieben. Parallel nutzen wir Whatsapp-Gruppen.

Auf der Plattform sieht man auch, wo sich Fairteiler befinden. In Soest gibt es aktuell einen Fairteiler auf dem Gelände der Fachhochschule, aber eventuell sind noch Weitere in Planung.

Meinst du, es braucht mehr oder weniger Digitalisierung, um Lebensmittel zu retten?

Die im Februar 2019 vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) vorgelegte nationale Strategie zur Reduzierung der Lebensmittelverschwendung hat das Ziel, diese bis zum Jahr 2030 in Deutschland zu halbieren. Die Frage ist nur, wie schafft man mehr Transparenz darüber, wo Lebensmittel reduziert werden? Im Handel und in der Industrie müsste Transparenz darüber herrschen, wie viel Abfall produziert wird. Um festzustellen, inwiefern die Ziele eingehalten werden, müssen sie gemessen werden. Das lässt sich dank der Digitalisierung viel einfacher und schneller umsetzen. Für Auswertungen aller Art ist es sinnvoller, wenn die erhobenen Daten digital vorliegen.

Was für eine Rolle spielt Lebensmittelverschwendung beim Klimawandel?

Auf jeden Fall eine nicht zu unterschätzende Rolle. In der ganzen Produktionskette eines Lebensmittels vom Erzeuger über die Industrie bis hin zum Handel entstehen Lebensmittelabfälle. Der größte Faktor ist letztendlich aber der Verbraucher. Eine Studie des Thünen-Instituts Braunschweig besagt, dass ca. über 50 % des Mülls beim Verbraucher entstehen. Hier muss also auch verstärkt Wissen – möglicherweise über Bildungseinrichtungen – vermittelt werden. Die durch Lebensmittelabfälle verursachten globalen Treibhausgasemissionen (THG) werden vom BMEL mit 4,4 Gigatonnen beziffert. Wenn Lebensmittelabfälle ein Land wären, dann wäre es der drittgrößte Verursacher von THG weltweit.

Wir haben uns gefragt, ob es hier in einer ländlichen Stadt wie Soest, wo man näher an den Feldern wohnt, ein größeres Bewusstsein für die Lebensmittelproduktion gibt? Im Vergleich dazu, wenn ich zum Beispiel in der Großstadt Berlin aufwachse.

Ich glaube, dass den Kunden schon wichtig ist, dass Produkte aus der eigenen Region stammen. Das sieht man in den Supermärkten. Alle Supermarktketten haben ein eigenes Label für regionale Produkte. Aber was hinter dem Label steht, das weiß der Verbraucher nicht unbedingt. Stammt das Produkt aus der Region im Umkreis von 20 km oder 100 km? Besser wäre es, wenn die Labels auch über die Länge der Anfahrtswege, die Ernährung der Tiere und die CO2-Menge informieren würden.

Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie digital ist Soest?

Als Smartphone-Nutzer bin ich eigentlich recht zufrieden. Hinsichtlich der Vernetzung der einzelnen Institutionen in unserer Stadt untereinander gibt es meines Erachtens noch einiges zu tun. Insgesamt würde ich sieben sagen.

Hast du drei Tipps für Soesterinnen und Soester, um weniger Lebensmittel zu verschwenden?

Ja, jeder Einzelne kann dazu beitragen, zum Beispiel indem er oder sie bewusster einkauft. Das heißt nach Bedarf einkaufen. Am besten man schreibt sich vor dem Einkaufen eine Liste mit den Dingen, die man wirklich braucht. Darüber hinaus kann man auf die richtige Lagerung von Lebensmitteln achten, damit sie auch bei einem zu Hause länger haltbar sind – und man sollte sich über den Unterschied zwischen Mindesthaltbarkeitsdatum und Verbrauchsdatum informieren. Zuletzt, wer in den Urlaub fährt, kann bei der Nachbarin klingeln und verderbliche, aber noch genießbare Lebensmittel, die noch im Kühlschrank sind, verschenken.

Das Interview haben Helge Ernst und Elisabeth Söllner vom stadtLABOR Soest am 22. Februar 2023 geführt.