„Gewalt ist keine Privatsache“ – Soester Gesichter
Erstellt am: 27.02.2024
Digitalisierung hat viele Gesichter – Soest auch. In unserer Reihe „Soester Gesichter“ sprechen wir mit Personen, die in Soest leben oder arbeiten und erfahren, was aktuelle Themen und der digitale Wandel mit ihrem (Berufs-)Leben machen. Wir haben uns mit Lena Sauerland unterhalten, die als Sozialarbeiterin und systemische Therapeutin in der Frauenberatungsstelle Soest arbeitet.
Hallo Lena, schön, dass du da bist. Magst du uns zum Einstieg mehr über dich und die Arbeit in der Frauenberatung erzählen?
Die Frauenberatungsstelle in Soest gibt es jetzt seit ungefähr 3 Jahren. Wir beraten Frauen und Mädchen ab 16 Jahren. Frauen können mit allen möglichen Themen zu uns kommen, was sie eben aktuell betrifft und interessiert. Unsere Schwerpunkte sind aber in der Regel schwierige oder toxische Beziehungen bis hin zu Gewaltfällen. Da gibt es ganz verschiedene Formen: Die klassische körperliche Gewalt, darunter kann sich wahrscheinlich jeder Mensch etwas vorstellen. Aber es gibt z. B. auch psychische Gewalt und ökonomische Gewalt. Mein Schwerpunkt in der Beratungsstelle ist die sexualisierte Gewalt.
Ich arbeite in der Beratungsstelle aus voller Überzeugung. Ich glaube, als Feministin passt es gut zu meiner politischen Einstellung, eine solche Arbeit zu machen. Und ich mache diesen Job auch aus voller Überzeugung und mit viel Freude.
Unser Kernthema hier im stadtLABOR ist der digitale Wandel. Sind die Digitalisierung und die damit einhergehenden Veränderungen in deinem Berufsfeld spürbar?
Ich würde sagen, Digitalisierung ist in meinem Arbeitsfeld Fluch und Segen zugleich, wie das wahrscheinlich so oft der Fall ist. Nachteil ist z. B., dass verschiedene Formen von Gewalt jetzt auch auf digitalem Wege ausgeübt werden können.
Die Hürde für die Täter und Täterinnen ist nun viel niedriger: man kann auf der Couch sitzen und muss nicht mehr Gewalt im Raum ausüben, sondern man kann das von weiter weg machen. Dadurch wird Gewalt häufiger ausgeübt, die Folgen für die Betroffenen können gravierender sein. Denn: das Internet vergisst nie. Wenn früher z. B., irgendein blödes Foto auf dem Schulhof gezeigt wurde, dann hat man es nach zwei Wochen vergessen. Heute ist es 20 Jahre später immer noch im Internet.
Ein weiteres negatives Beispiel sind auch ,Dickpics‘, also wenn man Fotos von männlichen Genitalien geschickt bekommt, obwohl man nicht einverstanden ist. Viele wissen es nicht, aber das ist eine Straftat. Das betrifft auch sogenannte Revenge Pornos, also Rachepornos, intime Fotos oder Videos, die ohne Einverständnis einfach weitergeleitet werden. Letzteres passiert meistens nach einer Trennung. Solche Fälle sind oft bei uns in der Beratungsstelle Thema.
Gleichzeitig gibt es aber auch viele Vorteile durch Digitalisierung. Es gibt z. B. inzwischen eine tolle Internetseite Dickstinction. Dort kann innerhalb von 60 Sekunden Anzeige erstattet werden, wenn man ein ,Dickpic‘ erhalten hat. Die Hemmschwelle ist dadurch enorm gesunken, da man nicht zur Polizei fahren muss. Das ist natürlich großartig. Grundsätzlich ist es auch so, dass sich Betroffene viel leichter über das Internet informieren und vernetzen können.
Auch für unsere Arbeit sind Digitalisierung und die digitalen Medien ein großer Vorteil. Wir bieten z. B. Online-Workshops und Online-Vorträge an. Interessierte können sich anonym dazuschalten, ohne irgendwohin fahren zu müssen, ohne sich outen zu müssen. Außerdem machen wir die persönliche Beratung nicht mehr nur vor Ort und telefonisch, sondern jetzt auch per E-Mail, Chat und Videoberatung. Der Vorteil liegt auch hier in der anonymen Nutzung, da die Frauen sich oft sicherer fühlen und schneller Vertrauen aufbauen, als wenn sie vor Ort einer fremden Frau gegenübersitzen. Und dadurch ist die Digitalisierung eine große Chance an der Stelle.
Neben der Digitalisierung ist ein weiteres unserer Anliegen, Menschen ins Gespräch zu bringen, darüber was ihnen für Soest wichtig ist. Was macht denn für dich eine lebenswerte und liebenswürdige Stadt aus?
Für mich persönlich würde ich sofort sagen, die beiden Themen Nachhaltigkeit und Mobilität. Wir sind hier relativ ländlich geprägt und es braucht Möglichkeiten, besser von A nach B zu kommen. Da reicht nicht ein Bus, der einmal am Tag fährt.
Hier lässt sich auch wieder ein Brückenschlag zu dem Thema Gewalt machen. Denn Frauen sind nicht unabhängig, wenn sie nicht wegkönnen. Wenn ich mich von einer Gewaltsituation trennen möchte und auf den Bus warten muss, dann wird es schwierig.
Das andere Thema, das mir in dem Zusammenhang sehr wichtig ist, ist die Partizipation. Alle Menschen, die hier leben, sollen mitgenommen werden und es soll sich eine kluge Lösung überlegt werden, sodass alle Leute ihren Beitrag leisten können.
In Bezug auf meinen Job finde ich es wichtig, im Blick zu haben, wie man Strukturen auch missbrauchen kann – gerade was digitale Überwachungssysteme angeht. Bei häuslicher Gewalt geht es viel um Kontrolle und das ist natürlich viel einfacher, wenn alles digital ist. Über Handys und Social Media oder das Teilen von Bildern ist zum Beispiel die Ortung von Personen heute unkomplizierter möglich. Das kann zum Stalking genutzt werden. Das stärker mitzudenken, ist total wichtig.
Und was wünscht du dir für die Soester Zukunft?
Mir liegt diese Stadt sehr am Herzen. Ich war 10 Jahre im Ruhrgebiet und hab dort studiert und gearbeitet und bin ganz bewusst zurückgekommen, weil ich so gerne hier lebe. Und trotzdem gibt es natürlich Wünsche, die ich noch habe, wo ich denke, da gibt es noch ein bisschen Luft nach oben. Ein wichtiges Thema ist dabei Toleranz. Ich wünsche mir, dass die Menschen liebevoll und toleranter miteinander umgehen und auch aufeinander achten. Das ist besonders beim Thema Gewalt wichtig. Gewalt ist keine Privatsache und häusliche Gewalt auch nicht. Da hinzuschauen und zu helfen, das finde ich sehr wichtig für die Zukunft hier in Soest.